An bayerischen Hochschulen und Universitäten sind noch viele Hürden abzubauen

Diskussionsrunde „Barrierefrei durchs Studium“ am 7. Juli 2022

Kerstin Celina, die Sprecherin für Soziales, Inklusion und psychische Gesundheit der grünen Landtagsfraktion, legte bei Ihrer „No limits! Tour“ am 7. Juli 2022 auch einen Stopp in Nürnberg ein. Im Rahmen der Tour waren bereits die Themen „Barrierefrei im digitalen Raum“, „Barrierefreiheit in Kunst, Kultur und öffentlichem Leben“ und „Barrierefreiheit (endlich) finanzieren!“ mit Menschen mit und ohne Behinderung an verschiedenen Standorten in Bayern diskutiert worden. Am 26. September folgt die Veranstaltung „Barrierefrei im Öffentlichen Dienst“ in Hof. Zusammen mit Verena Osgyan, wissenschafts- und hochschulpolitische Sprecherin der Fraktion und stellvertretende Fraktionsvorsitzende lud sie zum Thema „Barrierefrei durchs Studium“ ein. Die Veranstaltung wurde von zwei Gebärdensprachdolmetscher*innen übersetzt.

In seinem Grußwort führte der grüne Landtagsabgeordnete Elmar Hayn, Sprecher für den Öffentlichen Dienst, noch einmal die desolate Situation mit Blick auf die Umsetzung von Barrierefreiheit in Bayern vor Augen: Lediglich knapp über die Hälfte der rund 2800 staatlichen Gebäude waren 2021 barrierefrei zugänglich. Zahlen über barrierefreie Bushaltestellen in Bayern kann die Staatsregierung nicht benennen. Elmar Hayn machte deutlich, dass Barrierefreiheit rund ums Studium für alle einen Gewinn darstelle – für Menschen mit und ohne Behinderungen. 

Foto: Christine Blei

Verena Osgyan stellte bei der Einführung ins Thema klar, dass das Ziel der Staatsregierung, Bayern bis 2023 barrierefrei zu machen, nicht aus eigenem Antrieb erfolgt war, sondern auf die verpflichtende Umsetzung der UN-Behindertenkonvention zurückgeht. Umso unverständlicher, dass auf Landesebene kaum Fortschritte zu verzeichnen sind – obwohl die Staatsregierung 2013 ihren Aktionsplan „Schwerpunkte der bayerischen Politik für Menschen mit Behinderung“ verabschiedet hat. Seit Jahren setzen sich die Grünen im Bayerischen Landtag für die Umsetzung von Barrierefreiheit und Inklusion in ganz Bayern ein und fordert eine schnellere Umsetzung der notwendigen Maßnahmen und die Bereitstellung finanzieller Mittel. Unter Federführung von Kerstin Celina hat die grüne Landtagsfraktion im Juli 2022 das „Barrierefreiheitsgesetz“ eingebracht, das u.a. eine verbindliche Verankerung der öffentlichen Stellen und Behörden des Freistaats du der Gemeinden, den Ausbau der Fach- und Beratungskompetenzen und eine Überwachung der Umsetzung der Barrierefreiheit in Bayern vorsieht. 

Die Datenlage dazu, wie viele Studierende mit Behinderungen an Universitäten und Hochschulen für angewandte Wissenschaften eingeschrieben sind, ist dünn, denn das Merkmal „Behinderung“ wird statistisch nicht erfasst. Nach einer Erhebung des Deutschen Studentenwerks von 2016 haben deutschlandweit ca. 11% der Studierenden eine studienerschwerende Beeinträchtigung – Tendenz steigend. Dabei stehen Studierende mit Behinderung oder chronischer Erkrankung vor großen Hürden im Studienbetrieb und -verlauf. Dies betrifft nicht nur bauliche Hindernisse, sondern auch enorme Schwierigkeiten bei den Prüfungsformaten, der Prüfungsdichte und bei Anwesenheits- und Zeitvorgaben. Aufgrund mangelnder Kenntnisse der eigenen Rechte, Hemmungen oder einer ablehnenden Haltung gegenüber „Sonderrechten“ verzichten viele der Studierenden auf einen Nachteilsausgleich.

Auf grüne Initiative hin hat die Staatsregierung 2012 ein „Konzept zur inklusiven Hochschule“ beschlossen, das u.a. die barrierefreie Gestaltung von Gebäuden und der Ausstattung, den Ausbau der Studienberatung für Studierende mit Behinderung sowie die Verbesserung des Studienzugangs für sinnesbehinderte oder mehrfachbehinderte Menschen vorsieht. Auch die Sensibilisierung des Hochschulpersonals ist notwendig. Nicht mangelnder Wille der Hochschulleitungen sind an der Rückständigkeit schuld, sondern meist die unzureichende finanzielle und personelle Ausstattung. 

Barrierefreiheit kostet Geld: Angesichts des dramatisch steigenden Anteils an Studierenden mit psychischen Erkrankungen hat die grüne Landtagsfraktion 10 Mio. € u.a. für einen Ausbau der psychologischen und psychosozialen Beratung gefordert – die Anträge wurden abgelehnt. Allerdings wurde ein Berichtsantrag zur Situation von Studierenden mit psychischen Behinderungen eingebracht.

„Uns ist es ein besonderes Anliegen“, so Osgyan, „dass die Hochschulen und Universitäten verbindlich dafür Sorge tragen, dass Studierende mit Behinderungen oder chronischer Erkrankung gleichberechtigt am Studium teilhaben“. 

Foto: Christine Blei

In einer ersten Diskussionsrunde tauschte sich Kerstin Celina mit den Referent*innen darüber aus, was für ein barrierefreies Studium notwendig ist und wo nach wie vor die Hindernisse bestehen. 

Bernhard Schüssler hat mit 3% Sehbehinderung seinen Bachelor-Abschluss in Politikwissenschaft und VWL gemacht, studiert zurzeit an der Deutschen Journalistenschule im Online-Campus und beginnt im Wintersemester 22/23 sein Masterstudium in Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er nimmt keinerlei Assistenz oder anderweitige Unterstützung im Alltag oder im Studium in Anspruch, lebt seit kurzem allein und bekommt abgeschwächtes Blindengeld, ca. 200 € im Monat. Die drei Punkte, die ihn in seinem Studium am meisten behindern sind die Orientierung an einer so großen Universität wie der LMU mit ihren unübersichtlichen Gebäuden, sowie die eingeschränkte Mobilität, die Aufbereitung der Lehrinhalte sowie die Ausgestaltung der Prüfungen. Aber auch das Studentenleben außerhalb der Lehrveranstaltungen, die Kontakte zu anderen Kommiliton*innen oder die Teilnahme an Parties gestaltet sich als sehr schwierig und kostet viel Eigeninitiative. So muss sich Bernhard Schüssler beispielsweise in der Mensa an die Mitarbeitenden, damit sie ihm bei der Essensausgabe behilflich sind. Was den Zugang zu barrierefreien Websites der Universitäten betrifft, so sind die einzelnen Universitäten und Hochschulen sehr unterschiedlich ausgestattet. Während die Website der LMU für Sehbehinderte kaum zugänglich sei, könne man auf der Website der TH Nürnberg auch mit Sehbehinderung gut navigieren.

Nele Hallemann, Mitarbeiterin der „Kontakt- und Informationsstelle für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung“ (KIS) an der Uni Würzburg, berät alle Lehrenden, Organe und Gremien der Universität in didaktischen, baulichen, sozialrechtlichen und organisatorischen Angelegenheiten. Ein Erfolg ihrer Arbeit war beispielsweise, einer Studentin mit ADHS erfolgreich einen Studienplatz in Kanada zu vermitteln – und damit einen herausfordernden und bereichernden Auslandsaufenthalt, den sie sich vor der Beratung nicht zugetraut hatte. Hallemann gab zu bedenken, dass sich viele Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung, insbesondere solche mit psychischer Erkrankung, nicht trauen, sich an die Beratungsstelle oder an Dozierende zu wenden.

Auf die Frage von Kerstin Celina, inwiefern Universitäten und Hochschulen eigentlich inklusionsfreundlich seien, antwortete Frau Prof. Dr. Carola Gröhlich von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Technischen Hochschule Nürnberg mit einem klaren „Nein“. Es gebe einige wenige Vorbilder wie die Universität Marburg oder die TU Dortmund, die über ein großes Zentrum für Studierende mit Beeinträchtigung und eine eigene Reha-Fakultät verfügt. Prof. Dr. Carola Gröhlich lehrt Theorien und Handlungslehre in der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Menschen mit Behinderung. Sie ist Mitglied im Kompetenzzentrum Gender & Diversity der TH Nürnberg und begleitet den Diversitätsprozess an der Hochschule mit Schwerpunkt Inklusion. Einerseits bietet die Universität durch das Studieren, Lernen mit eigenem Rhythmus Vorteile für Menschen mit Behinderung – anders als etwa die Schule. Andrerseits existieren viele Barrieren und Bedarfe, die von den Universitäten und Hochschulen als solche gar nicht erkannt werden. Es fehlt an technischer und personeller Ausstattung und vor allem an Beratungsstellen. Die Universitäten sind grundsätzlich sehr unterschiedlich – auch was die digitale Barrierefreiheit angeht, obwohl sie dazu gesetzlich verpflichtet sind. 

Studieren bedeutet auch ein Leben außerhalb des Hörsaals – die Organisation des Alltagslebens und der Freizeitgestaltung. Wie es damit in Nürnberg bestellt ist, wurde in einer zweiten Runde diskutiert. 

Foto: Christine Blei

Als stellvertretende Fraktionsvorsitzende und sozialpolitische Sprecherin der Stadtratsfraktion der Grünen setzt sich Andrea Friedel seit Jahren für Inklusion, den Ausbau von Hortplätzen, Ganztagesschulen und inklusiven Kindertagesstätten, medizinischen Kompetenzzentren und einer Verbesserung der Pflege- und Gesundheitssituation ein. Auf Antrag der Grünen Stadtratsfraktion hin wurde im Dezember letzten Jahres der „Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention“ im Stadtrat beschlossen.  An der Vorbereitung des Masterplans waren viele Player beteiligt, aber mit der Coronapandemie kam dann erst einmal alles zum Stillstand. Inzwischen gibt es wieder eine Inklusionsbeauftragte, die beim Oberbürgermeister angesiedelt ist, da Inklusion eine Querschnittsaufgabe ist. Ein Ziel: Die Webseiten der Stadt Nürnberg sollen barrierefrei gestaltet werden.

Rosa Reinhardt, gehörlos, ist stellvertretende Vorsitzende des Behindertenrats der Stadt Nürnberg. Seit sechs Jahren kämpft sie als Delegierte im Ausschuss Barrierefreiheit des Behindertenrats Nürnberg für die Inklusion von gehörlosen Menschen, deren Bedürfnisse nach wie vor im Alltag zu wenig berücksichtigt werden. Deutlich machte dies Rosa Reinhardt an dem Beispiel des Notrufs in Aufzügen: Gehörlose können sich im Fall eines stehengebliebenen Aufzuges nicht bemerkbar machen, denn über die Sprachfunktion des Notrufs können sie nicht kommunizieren. Sie berichtet zudem, dass die Aufklärung über Corona-Maßnahmen für Gehörlose zu Beginn der Pandemie gar nicht bei den Betroffenen ankam, später immer zeitversetzt. In Nürnberg haben sie deshalb eine WhatsApp mit Corona-Informationen für Gehörlose erstellt und verbreitet. Pionierin ist Rosa Reinhardt aber noch auf einem anderen Feld: Sie wurde 2012 für 15 Jahre ehrenamtliches Engagement in der Gehörlosen-Aidsberatung der Stadtmission Nürnberg mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Sie ging an die Gehörlosenschule und hängte Plakate zu unterschiedlichen Themen wie Stigmatisierung oder die Notwendigkeit, Kondome zu nutzen, in Männer- und Frauentoiletten auf. Auch eine online-Beratung wurde eingerichtet. Die von der Stadtmission finanzierte AIDS-Beratung für Gehörlose ist bayernweit die einzige ihrer Art. 


Die Diskussion wurde mit vielen Beiträgen aus dem Publikum bereichert. Bei dem anschließenden Get-Together in der Villa Leon konnten sich die Abgeordneten, die Referent*innen und die Gäste noch über die Podiumsdiskussion hinaus austauschen.